Datum: 08. Januar 2022
Kloster Mor Gabriel
Wir sind sonst nicht sonderlich interessiert an Besichtigungen von Klostern, aber heute steht eines auf dem Programm. Das Kloster Mor Gabriel soll eines der ältesten christlichen Klostern auf der Welt sein, könnte also interessant werden.
Nach der Stadt Mydiat geht es für uns nochmals 20 Kilometer weiter durch eine kahle hügelige Landschaft. Ab und zu sehen wir am Strassenrand Zelte und fragen uns, wer da lebt und ob diese Menschen hier sesshaft wohnen oder als Nomaden weiterziehen.
Beim Kloster angekommen bezahlen wir einen Eintritt von 15 TL pro Person (umgerechnet etwa 1 Euro). Dieses Eintrittsgeld beinhaltet den Guide, denn das Kloster kann nicht selbstständig besichtigt werden. Wir scheinen die einzigen englischsprachigen Touristen zu sein und ein Mann, welcher im Kloster arbeitet, wird geholt, da dieser Englisch spricht. Er erzählt uns sehr ausführlich über die Geschichte des Klosters. Dabei nimmt er eine etwas einseitige Sichtweise über die Geschehnisse rund um das Kloster ein und füttert uns mit sehr vielen kleinen Geschichten – für unseren Geschmack etwas zu ausführlich.
Das Kloster hat eine grosse Bedeutung für die syrische-orthodoxe Kirche. Heute sind die syrisch-orthodoxen Christen in dieser Region eine Minderheit. Durch viele Spenden aus dem Ausland, wird das Kloster aber weiter renoviert und erweitert.
Unfall in der Nacht
Da die Sonne mittlerweilen fast am Horizont verschwunden ist, fragen wir, ob wir auf dem Parkplatz ausserhalb des Geländes übernachten können, da wir nicht im Dunkeln weiterfahren möchten. Der Mann ist etwas unsicher. Sie störe es nicht, sie wissen aber nicht, ob es auch sonst in Ordnung sei. Wir vier besprechen uns kurz und beschliessen, dass wir uns als Gruppe hier genügend sicher fühlen und bleiben über Nacht.
Nach dem gemütlichen gemeinsamen Nachtessen wollen wir alle Richtung Bett. Doch Sarah (von Sämi, nicht ich) stürzt in der Dunkelheit über die Mauer – ein Schock für uns alle. Es ist kühlen, verarzten und beobachten angesagt. Momentan scheinen keine weiteren sofortigen Schritte notwendig zu sein, sicherheitshalber suchen wir provisorisch die nächsten Spitäler raus. Nun doch unruhig, nicht aber wegen der Lage, sondern aufgrund des Unfalls, gehen wir ins Bett.
Am nächsten Morgen begrüsst uns die Sonne, einige Schafhirte sind unterwegs.
Sarahs Zustand hat sich nicht verschlechtert, aber der Unfall hat klare physische und psychische Spuren hinterlassen. Wir alle sehen es als wichtig an, dass wir heute versuchen einen gemütlichen Tag zu gestalten und frühzeitig an einem geeigneten Schlafplatz zu sein.
Hasankeyf
Nach etwa einer Stunde erreichen wir den Ort Hasankeyf. Das ursprüngliche Dorf ist heute aufgrund eines Staudamms fast vollumfänglich unter Wasser. Unser erster Eindruck ist verwirrlich, bei eine Tee ordnen wir uns etwas.
Vor uns sehen wir die umplatzierten Bauten, welche so vor dem zunehmenden Wasser geschützt werden und für die Öffentlichkeit erhalten bleiben sollen. Die Umgebung dieser Bauwerke wirkt noch nach einer Baustelle, mal sehen, wie dies zu einem späteren Zeitpunkt aussehen wird.
Nach nur wenigen Minuten kommt ein junger Mann auf uns zu. Er erzählt uns von seinem Angebot, eine Tour hier zu gestalten inklusive dem alten Teil auf der anderen Wasserseite. Anscheinend soll die Strasse aktuell gesperrt sein, für ihn wäre das aber kein Problem.
Wir sind noch etwas unschlüssig, wollen mal selbst die Gegend erkunden und würden uns ansonsten bei ihm melden. Nach einem kleinen Rundgang beschliessen wir, die gegenüberliegende Seite anzusteuern, eventuell gibt es ja Orte, wo wir hin dürfen und einfach die Nachmittagssonne geniessen können. Ansonsten melden wir uns dann bei dem jungen Mann.
Parkschaden mit Folgen
Flo erhält einen Anruf, ich starte den Motor, fahre zurück und gleich wird mir bewusst: Ich bin in ein anderes Auto gefahren. Es ist wieder die Seite, wie beim letzten Mal die Kiste. Der tote Winkel den ich dort habe, scheint deutlich grösser zu sein, als ich angenommen habe. Ich merke, wie es mich innerlich total ärgert, aber eigentlich ist es ja „nur“ ein Parkschaden.
Der junge Mann und seine zwei Begleiterinnen steigen aus, begutachten das Ganze und rufen einen Mechaniker an. Geschätzter Preis sei etwa 3’000 TL (etwa 210 Euro). Wir sind unsicher: Ist dies der korrekte Preis? Wie handhabt man einen Parkschaden nun in der Realität im Ausland? In unserem Reiseführer steht, bei einem Unfall immer die Polizei dazu holen, was ist nun der bessere Weg? Der Mann scheint unter Zeitdruck zu sein, will es schnell klären, er müsse noch einen Flug erwischen.
Schlussendlich empfiehlt eine Kollegin von ihm am Telefon, die Polizei anzurufen. Und so langsam nimmt eine Geschichte den Lauf, die wir uns nicht in dieser Form gewünscht hätten.
Die kurze Zusammenfassung: Trotz ausgefüllten Unfallprotokollen und gegenseitigen Angaben kehrt der Mann nach der Polizei zu uns zurück, um nochmals mit uns in die Verhandlung zu gehen für das jetzige Bezahlen in Bargeld. Seine Garage habe gesagt, die Versicherung werde nicht zahlen. Es entsteht ein Hin- und Her, wir sagen schon zu, doch Bargeld zu geben, ändern dann wieder die Meinung, da uns nicht wohl dabei ist. Sprachlich und kulturell ist es schwierig, wir spüren seinen Stress und die Angst, kein Geld zu erhalten. Gleichzeitig wollen wir uns nicht in Schwierigkeiten bringen und wissen zusätzlich nicht, welcher Betrag eine gute Verhandlungsbasis wäre. Die Polizei kommt nochmals, wir sollen losfahren. Wir ahnen es schon, hoffen es aber nicht – schon nach wenigen Kilometern werden wir von etwa 25 Männern abgefangen, zwischen ihren Autos eingeklemmt und aufgefordert, sofort unseren Motor auszuschalten. Die Situation wirkt sehr bedrohlich, obwohl wir bis heute nicht wissen, wie bedrohlich sie wirklich war. Schlussendlich bezahlen wir 2’000 TL, gegenseitig wird zugesagt, dass das Thema nun als abgeschlossen angesehen wird.
Wir hoffen es, trotzdem sind wir alle vier verunsichert und die Angst steckt in den Knochen. Der nächste Beschluss ist schnell gefasst: Trotz der schon eingetroffenen Dunkelheit die Gegend vollständig verlassen, einen Fahrtweg von drei Stunden auf uns nehmen und uns in einer anderen Region einquartieren.
Die Geschichte gibt uns zu denken. Wir merken, dass momentan noch unsere Emotionen, vor allem die Flucht- und Angstgefühle, unser Denken stark bestimmen und beeinflussen, wir aber wollen das Erlebnis für uns einordnen und aus verschiedenen Perspektiven anschauen. Heute glauben wir nicht, dass uns dies noch gelingen wird, aber die Winterlandschaft an unserem Ziel Ort Tatvan strahlt eine Ruhe aus, die auch uns ruhig lassen wird und ich bin mir sicher, morgen werden sich auch die Emotionen beruhigt haben und Platz für das Nachdenken geben. Jetzt sind wir einfach froh, ist niemandem etwas geschehen.
Tschüss Südostanatolien
Durch den unerwarteten Verlauf der Ereignisse möchte ich aber nicht diese Geschichte als Ende unsere Südostanatolienzeit stehen lassen. Beim Start in die Region Südostanatolien waren wir angespannt, wussten nicht genau, wie ist die Sicherheitslage sowohl aus innerpolitischen Gründen wie auch aufgrund der Nähe zur syrischen Grenze.
Heute blicken wir auf eine spannende, facettenreiche und schöne Zeit zurück.
Sanliurfa hat uns mit allen Sinnen verzaubert und uns die Reisefreude ab dem ersten Moment zurückgegeben. Die Sonne hat uns oft begleitet während unserer Zeit, was uns wieder aufgewärmt hat. Dank dem Ansprechen von uns durch Aladdin und seinen Cousins durften wir eine wundervolle Zeit bei ihm, seiner Familie, seinem Dorf, seiner Verwandtschaft und seinen Freunden erleben.
Bei Mardin treffen wir wieder auf Sarah und Sämi und beschliessen, ab jetzt und für den (hoffentlich) bevorstehenden Grenzübertritt in den Iran gemeinsam zu reisen. Mardin lockte uns auf seine Dächer und verzauberte uns nochmals mit den schönen Stoffen, welche hoffentlich bald unsere Sitzbank im Bus schmücken.
Unser Abschied fiel hastig aus, geprägt vom Unfall und der Parkschadengeschichte, doch die farbigen Erlebnisse der Region werden stark in unserer Erinnerung bleiben. Und wir haben wohl auch aus den letzten Ereignissen für uns wieder etwas mitgenommen: In den Ländern, in welchen wir momentan unterwegs sind, treffen wir immer wieder auf Menschen, die uns ihre Nummern geben und mitteilen: „Wenn ihr mich mal irgendwann benötigt, egal wo im Land und zu welchem Thema, ruft mich an!“. Auch in der Türkei hätten wir sowohl Leute aus der Region Südostanatolien wie Menschen in der Schweiz aus der Türkei gehabt, welche wir zur Vermittlung und direkten Lösung hätten nutzen können, aber nicht daran gedacht. Vielleicht wäre es dann anders verlaufen, vielleicht auch nicht.
Ui, da habt ihr ja Glück gehabt. Nächstes mal unbedingt daran denken, jemanden anzurufen der die Sprache kann und sich auskennt. Trotzdem habt ihr ja alles richtig gemacht. Andere Länder, andere Sitten.